15 Jahren eigene Aus- und Weiterbildung in Neuroaffektiver Traumatherapie und 9 Jahre im Lehrteam von Dr. Laurence Heller haben mir gezeigt: Trauma ist ein in unserer Gesellschaft unverstandenes und in seiner (Aus-)Wirkung unterschätztes Phänomen.
Erst seit ein paar Jahren fängt das sich an zu ändern. Neue Erkenntnisse über die Funktionsweise von Gehirn und Nervensystem haben mittlerweile dazu geführt, dass altgediente Ansätze und Modelle auf den Prüfstand gekommen sind. Es zeigt sich auch immer klarer, dass wir dringend neue Ansätze brauchen – und das nicht nur in Psychologie und Therapie. Auch im Coaching. Denn Trauma ist vielschichtiger, alltäglicher und gegenwärtiger als viele wissen.
>>> Die ACE-Studie: Wie Kindheitstraumata das spätere Leben beeinflussen können
Irrglauben
Viele verstehen Trauma als Folge von Krieg, Vergewaltigung, Missbrauch, Unfällen, Naturkatastrophen oder ähnlich Schlimmen. Und selbst wenn jemand so ein Schocktrauma erlebt hat, hält sich die Meinung, dass Zeit Wunden heilt oder alles nur eine Frage des Willens ist, hartnäckig. Ist ja schon Jahre her … irgendwann muss es doch mal vorbei sein … reiß dich halt zusammen … das wird schon … war bestimmt schlimm, aber schließlich hast du überlebt …
Nur „funktioniert“ unser Körper, unser Nervensystem und unser Gehirn so nicht.
Hinzu kommt, dass es neben Schocktrauma auch noch andere Traumaarten gibt – und welchen Einfluss und welche seelischen und körperlichen Auswirkungen vor allem Bindungs- und Entwicklungstraumata haben, ist noch viel weniger bekannt.
Traumaspuren
Ich bin der Meinung: Wir alle haben in unserem Leben Trauma erlebt. Wir alle tragen Spuren davon in uns. Die einen mehr, die anderen weniger. Denn Trauma gehört zum Menschsein dazu:
Kinder fallen nun einmal von Fahrrädern oder die Treppe runter. Krankenhausaufenthalte, Operationen und Arztbesuche hat jeder von uns erlebt. Unsere Eltern sind oder waren auch nur Menschen und wie alle Menschen manchmal unachtsam, übellaunig, abwesend und/oder (zu) wenig empathisch.
Ja, all das gehört zum Leben dazu und passiert. Stimmt. Und ist an sich kein Trauma. Hier müssen ein paar Dinge zusammenkommen. Und die kommen öfter zusammen als man meinen sollte.
Ein ganz alltägliches Beispiel
Ein Vater muss nach einer anstrengenden Woche im Büro am Wochenende den Rasen mähen. Er will das nur schnell hinter sich bringen, ist genervt, mit den Gedanken noch im Büro. Sein 4-jähriger Sohn spielt auf der Straße mit Freunden. Auf einmal großes Geschrei und Junior steht laut weinend und mit aufgeschlagenem Knie im Garten.
Je nachdem wie es jetzt weitergeht, wird diese normale Situation dem Jungen in Erinnerung bleiben:
Version 1:
Der genervte Vater schimpft mit dem Kind … wie dumm kann man sein … kann man dich nicht mal 5 Minuten … warum passt du nicht auf? … jetzt ist das Fahrrad kaputt und er muss sich auch noch darum kümmern … er ruft die Mutter … beschuldigt sie, nicht aufgepasst zu haben … die hält dagegen … das Weinen des Jungen verebbt, er wird still und starr … um ihn geht es nicht und niemand hilft ihm.
Version 2:
Der Vater lässt alles stehen und liegen und kümmert sich um seinen Sohn, nimmt ihn in den Arm, schaut sich die blutenden Knie an und hört geduldig der unverständlichen Schilderung zu. Dann ruft er die Mutter, beide pusten, streicheln über Kopf und Rücken und die Mutter nimmt das noch ein bisschen schniefende Kind zum verarzten mit ins Haus. Der Vater schaut nach dem Fahrrad.
Wiederholt sich Version 1 im Leben des Jungen lernt er daraus: mir hilft niemand, ich muss tapfer sein und mit meinem Kram alleine klarkommen. Es braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich auszumalen, wie hinderlich so ein Selbstbild im Leben sein kann.
Ganz “normale” Menschen
Ich habe ganz “normale” Menschen begleitet, die Version 1 so oder so ähnlich in ihrer Kindheit vielfach erlebt haben. Und deren Not und seelisches Leid sich nur in einem von dem eines Unfall- oder Missbrauchsopfers unterschieden hat: im Unverständnis. Dem eigenen und dem, der Umgebung.
Verständnis
Trauma informed bedeutet, besser zu verstehen, dass Version 1 vielleicht „normal“, aber ganz sicher nicht natürlich ist und dass so mancher Tick, so manche Macke und so mancher Hirnknoten den wir mit uns rumschleppen die logische Folge davon sein kann.
Besser zu verstehen, wie nachhaltig und tief prägend das Aufwachsen in einer Umgebung, wo Version 1 die Regel und nicht die Ausnahme war, für unser späteres Leben, Lieben und Arbeiten sind, ist der Schlüssel, um nicht nur die eigene Welt zu einem lebenswerteren Ort zu machen.
Denn dank der lebenslangen Neuroplastizität unseres Gehirns (= die Fähigkeit des Gehirns, seine Struktur und Organisation kontinuierlich an veränderte Voraussetzungen und neue Anforderungen anzupassen) ermöglichen Ansätze wie z. B. Somatic Experiencing und NARM ungeahnte Möglichkeiten der Bewusstseinsentwicklung und Potentialentfaltung, persönlich und kollektiv.
Mir wichtig:
Ich bin ausgebildet in der Therapie von komplexem Trauma und ich habe viele Jahre die Not und das seelische Leid von Betroffenen begleitet. Betroffene, die ihr Leben lang unter den Folgen gelitten haben, die eine wahre Odyssee durch die Ärzteschaft erlebt haben, die auf wenig Verstehen gestoßen sind – und die nie aufgegeben haben. Diese Kraft und die darin liegende tiefe Weisheit war und ist es, die berührt, einen demütig macht und still werden lässt.
Ich minimiere oder relative daher schweres, komplexes Trauma nicht! Ich vergleiche nicht. Und werde all das auch niemals tun! Trauma ist immer individuell, vielschichtig, komplex – und schlimm. Und verdient Schutz, Achtsamkeit und Respekt.
Ein sehenswertes Video hierzu:
Laura Reese, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren, spricht u. a. auch über die gesundheitlichen Folgen von Trauma, adressiert die Auswirkungen von Angst und wirft einen kritischen Blick auf das uns alle momentan umgebende Narrativ.
Ich habe vor einigen Jahren mit Laura zusammengearbeitet und teile ihr Video hier gerne.